Man sollte ja meinen, daß einem während eines naturnah verbrachten Urlaubs auf dem Lande primär querformatige Motive vor die Linse kommen. Tatsächlich muß der zonebattler aber verblüfft konstatieren, daß er selten so viele Hochformat-Aufnahmen mit nach Hause gebracht hat wie aus der Sommerfrische in Rumänien! Das liegt natürlich zuförderst an den mehrfach erwähnten, jedoch bis dato in dieser Reise-Reprise nicht gezeigten Kirchenburgen und sonstigen Hochbauten der fotogenen Sorte. Ein weithin berühmtes Motiv ist der Stundturm von Sighișoara alias Schäßburg, und der schaut nun wirklich so aus, wie sich der gemeine Vampir-Fan die perfekte Kulisse für nächtlich-gruseliges Treiben vorstellt:
Sighișoara ist ein markantes Beispiel für einen an sich sehr schönen Ort (das historische Zentrum gehört seit 1999 zum UNESCO-Weltkulturerbe), welcher jedoch durch touristische Heimsuchung – angeblich bis möglicherweise wurde Vlad Țepeș (Vlad III. Drăculea, der Pfähler) hier vor rund 600 Jahren geboren – einiges von seinem natürlichen Charme eingebüßt hat. Die heimische Wirtschaft und auch Teile der Gastronomie machen sich den Dracula-Hokuspokus zunutze, um mit mildem Grusel Publikum und Gäste anzulocken. Wirklich gruselig sind indes die allerorten feilgebotenen Souvenirs aus fernöstlicher Produktion: Bei deren Anblick würde sich der originale Graf Dracula (so es ihn denn gäbe) wohl selbst schaudernd abwenden...
Wir wenden uns nicht ab, sondern weiterhin zu, und zwar weiterhin den aufrechten Zeugen der landesspezifischen Architektur! Hier sehen wir die mustergültig instandgehaltene, evangelische Kirche zu Mălâncrav (Malmkrog):
Wir waren dort zwecks Besuchs eines kleinen transsilvanischen Klassik-Musikfestivals, dessen Ausführende samt Troß zur Zeit unserer Visite in der Gegend unseres Weilens herumtingelten. Gleich neben der romanischen Kirche gibt es in Mălâncrav ein ungarisches Adelsschloß, in welchem die jungen Musiker ihr Können demonstrierten. Davon gibt es hier leider keine Bilder zu sehen, aus Diskretionsgründen ebenso wie aus meiner altersbedingt zunehmenden Neigung, kulturelle Höhepunkte im Moment ihres Entstehens sinnlich zu genießen statt sie mit letztlich untauglichen Mitteln irgendwie konservieren zu wollen. Eine Kirche läuft einem nicht weg (allenfalls tut es mittelfristig das passende Licht), daher konnte der eindrucksvolle Sakralbau dann stellvertretend für das Gesamterlebnis seinen Weg durch das Objektiv und letztlich hier hinein in des Berichterstatters Blog finden...
Ein kleiner Sprung durch Zeit und Raum bringt uns nach Copșa Mare oder auch Groß-Kopisch, einem recht idyllischen Ort östlich von Biertan (Birthälm), den wir von dort aus erwandert haben. Vorbei an Brunnen, kleinen Katen, kichernden Kindern und kläffenden Kötern überwanden wir zu siebt (vier Erwachsene, zwei Kinder, ein braver Hund) einen Höhenzug, um schließlich nach dem Konsum von Eis und kalten Getränken aus dem winzigen Dorfladen vor dem natürlich auch hier vorhandenen Turm einer Kirchenburg zu stehen:
Der rumänische Burgwächter (dessen Frau wohl mit der Einsamkeit und der zäh dahinfließenden Zeit in der siebenbürgischen Provinz weniger zufrieden war als der ihr rechtmäßig zugemutete Schlüsselbewahrer) hatte uns die Kirche aufgesperrt und sie uns dann zur eigenen Erforschung überlassen (viel zu erklären hätte er wohl ohnehin nicht vermocht, die Geschichte der Siebenbürger Sachsen ist ja nicht die seine). Also erklommen wir (abgesehen von Frieda, der lässigen Labradorin) den Turm der Kirche. Über hölzerne »Hühnerleitern« hinauf und über haufenweise Taubenkot hinweg bis zu den großen Glocken. Alles völlig unbeaufsichtigt und unter Begleitumständen, die es daheim in Deutschland definitiv so nirgends mehr gibt. Da wäre so ein Turm wegen Baufälligkeit verrammelt und verriegelt. [1] [2]
Mitten in fremden Landen Glocken mit deutscher Inschrift zu sehen fühlt sich anfangs schon ein wenig merkwürdig an, zumal auch die anderen Beschriftungen in der Kirche, verstaubte Gesangbücher und sonstigen gedruckten Hinterlassenschaften sämtlich auf Deutsch verfaßt sind. Schnell werden da Assoziationen an apokalyptische Endzeit-Geschichten geweckt, mitunter kommt man sich in den entlegeneren Kirchen tatsächlich wie der letzte Mensch auf Erden vor. Man gewöhnt sich natürlich daran, aber es ist schon eigenartig, sich das jahrhundertelange Nebeneinander von Rumänen, Siebenbürger Sachsen und anderen Volksgruppen vorzustellen, die alle ziemlich konsequent unter Ihresgleichen blieben, statt sich langfristig zu einem Volk zu vermengen...
Der Blick zurück auf Copșa Mare und seine Kirchenburg zeigt eine vermeintliche Idylle, die typisch ist für Siebenbürgen, jenem Landstrich in der Mitte Rumäniens, in der die Vergangenheit noch überall offen zu Tage liegt. Diese zu Fuß zu erwandern und zu erkunden ist ungleich befriedigender als das Hingefahrenwerden im Reisebus mit jeweils 20 Minuten Knips- und Pinkelpause vor der Weiterfahrt zur nächsten Sehenswürdigkeit! Der zonebattler und seine bessere Hälfte waren sich jedenfalls einig: Lieber eine Handvoll intensiv inspizierter Kirchenburgen in der Erinnerung behalten als zwei Dutzend nur en passant fotografierte hinterher kaum noch zuordnen zu können.
Wenn wir nach unseren täglichen Exkursionen wieder »daheim« in Richiș angekommen waren, gaben wir uns fast jeden Abend der Süße des Müßigganges hin, machten erst ein kleines Nickerchen, nickten anschließend den immergleichen Statisten vor der Dorfbar zu und ließen uns überraschen von dem, was uns so vor die Augen kam. Eine erstaunliche Entdeckung waren akribisch geführte, prä-excelitische Tabellen aus den 1920er Jahren, in denen in schönster Handschrift festgehalten war, wer in welchem Haus des Dorfes wohnte und wieviel Stück Vieh und »Zünder« besaß:
Der amtliche Charakter der Dokumente war offenkundig, der aus ihnen wabernde Geist des deutschen Berufsbeamtentums ebenso. Indes war die ehedem germanische Grundordnung der Erosion preisgegeben: Eine im ehemaligen Pfarrhaus eingemietete Zigeunerin [2] hatte die Archivalien am Dachboden gefunden und kurzerhand zu legitimer Marketenderware erklärt in der Hoffnung, die ihrem Verständnis verschlossen bleibenden Schriftstücke an Touristen wie uns verhökern zu können. Der Gewinn liegt bekanntlich im Einkauf, und bei weggefundenen Antiquitäten mit Einstandspreis Null wäre auch der bescheidenste Erlös als Gewinn zu verbuchen. Daß damit historische Erkenntnisse und Kontexte unwiederbringlich dahin sind, hat schon altägyptische Grabräuber nicht gestört, was wollte man da von einer simpel gestrickten und mutmaßlich kaum bis wenig gebildeten Landfrau erwarten? Wir haben jedenfalls nichts gekauft von ihrer papierenen Beute, um derlei Tun nicht auch noch zu ermutigen...
Ein neuer Tag, ein neues Abenteuer: Statt die gut vier Straßenkilometer nach Biertan mit der Nachbarn Fahrräder zu erstrampeln, zogen wir zu Fuß los, um nach Überquerung des nächsten größeren Geländebuckels in einem parallel verlaufenden Tal zum Nachbarort zu marschieren. Auf stark ausgespülten Wirtschaftswegen ging es zunächst forsch bergan, und immer wieder gab es einen Grund anzuhalten, um sich Fauna und Flora näher zu besehen. Meine Güte, dachte sich der schwitzende Chronist bei einer dieser Gelegenheiten, wie lange hast Du schon keinen Schwalbenschwanz mehr gesehen? Und dieser prächtige Flattermann hier posiert geradezu keck vor Deiner Kamera und will partout im Bilde festgehalten werden! Na gut, man ist ja betörenden Schönheiten jederzeit gerne und eilfertig zu Diensten:
Auch weniger augenfällig herausgeputzte Sechsbeiner haben wir in großer Zahl und Vielfalt angetroffen. Tatsächlich wird einem durch das allgegenwärtige Gewimmel und Gesumme in Siebenbürgens Wald und Flur erst so recht vor Augen und Ohren geführt, daß das vielzitierte Insektensterben in Deutschland und Zentraleuropa keine hohle Panikmache, sondern längst bedrohliche Realität ist. Da kann man nur hoffen, daß Monokulturen und Chemiekonzerne nicht auch noch Osteuropas Ökosysteme auf Dauer verarmen lassen...
Im drübigen Tal begann dann erstaunlicherweise eine wunderbar ausgebaute und präzise asphaltierte Straße im faktischen Nichts: Kein Ort, kein Haus, kein sonstiger ersichtlicher Grund, warum eine Straße dieser Güte just hier beginnen oder enden sollte! Es ging einfach los und aus dem staubig-sandigen Wirtschaftsweg in the middle of nowhere wurde von einem Schritt zum nächsten eine perfekt markierte Fahrbahn:
Kilometerlang ging es so voran, selbstredend mit glänzenden neuen Stoppschildern an allen einmündenden Wegen, denen man getrost eine durchschnittliche Verkehrsdichte von 1,5 Fuhrwerken/Woche unterstellen darf. Als erfahrene Inselreisende ahnten wir die Hintergründe natürlich schon lange, bevor wir am Ortseingang von Biertan unser Wähnen auf einer großen Informationstafel bestätigt sahen: Im Rahmen eines vom Land mit 0 EUR, aber von der Europäischen Union mit knapp 1.000.000 EUR geförderten Infrastrukturprojekts wurde hier ein Stück Fortschritts auf (nicht etwa in) den Sand gesetzt, auf den die Beteiligten mächtig stolz sind. Man mag sich fragen, ob man mit dem Geld nicht besser die immer noch unbefestigten Staubstraßen innerhalb des nicht ganz unbedeutenden Städtchens Biertan hätte asphaltieren können. Man mag sich ferner darüber echauffieren, daß der europäisch-föderale Geldregen immer nur Neues kurzfristig erblühen läßt, zu dessen laufender Unterhaltung danach aber keine Mittel mehr da sind, weshalb die Natur sich unverzüglich anschickt, sich alles wieder langsam zurückzuerobern. Hilft aber alles nix: Wenn die einen schlau genug sind, formgerechte Förderanträge zu stellen, und die anderen sich nicht mit dem Papierkrieg befassen wollen, dann fließt das Geld halt zu den Gewiefteren, auch ganz ohne Korruption. Die es dem Vernehmen nach in Rumänien aber auch noch in reicher Auswahl geben soll...
Kurz vor Biertan und in Sichtweite besagter Infotafel geht der Asphalt wieder in Sand und Staub über, was für ein ortsübliches Vehikel mit zwei PS ja auch den allemal stimmigeren Unter- und Hintergrund abgibt:
Die Topographie der von uns bereisten und inspizierten Dörfer folgt meist dem gleichen Schema: Innen die soliden Höfe und Häuser der Siebenbürger Sachsen, drumherum die einfacheren und kleineren Häuschen der Rumänen, draußen an der Peripherie die schäbigen Hütten bis unwürdigen Verschläge der Roma und anderer unterprivilegierter Volksgruppen. Mit dem Exodus der deutschstämmigen Bevölkerung, also nach der Auswanderung der meisten Siebenbürger Sachsen, hat sich das »Vakuum« bald durch Nachzug von außen gefüllt. Darüber gäbe es vieles zu lesen und auch zu schreiben, hier sei nur festgehalten, daß natürlich auch heute noch (oder wieder) die besser Gestellten die gediegeneren Häuser im Ortskern bewohnen und die Armen draußen in den Beinahe-Slums hausen...
So, dann wollen wir mal nach diesen Betrachtungen mit wenigen weiteren Schritten endlich das Ziel unserer Wanderung erreichen und sozusagen »von hinten reinkommend« die grandiose Kirchenburg von Birthälm erspähen:
Im 16. Jahrhundert erbaut und von einer dreifachen Ringmauer umgeben, ist dieser trutzige Gotteshauskomplex geradezu der Inbegriff einer Siebenbürgischen Kirchenburg und hätte beste Aussichten auf einen der vordersten Plätze in einem hiermit imaginierten Ranking der Prächtigsten ihrer Art! Über die Baugeschichte und die reiche Innenausstattung möge sich die interessierte Leserschaft im oben verlinkten Wikipedia-Artikel informieren. Der Endesunterfertigte beläßt es für heute beim Hinweis auf ein wunderbares Foto der Kirchenburg zu Birthälm, in dessen Hintergrund etwas zu sehen ist, was unbedarfte Beobachter vielleicht gar nicht auf Anhieb erkennen und richtig einordnen können: Die Rede ist von den Terrassierungen, die heute sinnlos erscheinen mögen, aber auf die frühere Nutzung des Hanges als Weinberg hinweisen. Davon wird in den nächsten Folgen dieses Reise-Rapports noch die Rede sein, für heute sei es nunmehr genug. Fortsetzung folgt!
[1] Wobei sich der Berichterstatter dunkel daran erinnert, in Thüringen kurz nach der Wende im Rahmen eines Inspektionsbesuches auch schon mal einen baufälligen Kirchturm unter vergleichbar verwegenen Rahmenbedingungen erklommen zu haben. Was in der Ex-DDR mit dem Mauerfall zu Ende ging, ist im Rumänien der Jetztzeit hier und da noch gegenwärtig – im Guten wie im Schlechten.
[2] Leider hat der lange Zeit unkontrollierte Zugang zu den verlassenen Kirchenburgen diesen oft schwer zugesetzt durch Plünderung und Vandalismus. Die einst nicht unbedingt außerordentlich prächtige, sicherlich jedoch ordentliche Orgel der Kirche von Copșa Mare ist gegenwärtig in desolatem Zustand: Viele ihrer Pfeifen wurden von Metalldieben grob herausgerissen und abtransportiert, womit das nun nicht einmal mehr aus dem »letzten Loch« pfeifende Instrument jenseits aller realistischen Hoffnungen auf Reparierbarkeit zum traurigen Sperrmüllhaufen degradiert worden ist...
[3] Mit dieser ortsüblichen Typisierung ist durchaus keine Diskriminierung beabsichtigt, die Roma in Rumänien bezeichnen sich mitunter ja selbst als țigani. Der allzeit auf Komplexitätsreduktion bedachte zonebattler differenziert ungeachtet ethnischer Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe und Nasenlänge stets nur nach ihm sympathischen und ihm unsympathischen Menschen. Das hat sich jederzeit und jedenfalls bewährt und reicht zum Bestreiten des Alltagslebens auch allemal aus.
Toller Reisebericht mit beeindruckenden Bildern! Gibt es auch welche vom Innern des bestiegenen Kirchburgturms? Diese alten Holzkonstruktionen finde ich allerweil faszinierend.
Danke für das Mitnehmen durch eure Dokumentation!
#1
Ich danke meinerseits für das Interesse und das freundliche Feedback! Natürlich habe ich auch Fotos vom Dachstuhl des Kirchturmes gemacht, aber ich kann ja hier stets nur eine kleine Auswahl von Bildern zeigen, die ich zuvörderst nach ästhetischen und weniger nach dokumentatorischen Kriterien auswähle. Gerne maile ich Dir die entsprechenden Aufnahmen zu!
#2