In der Mittagspause sah ich zu meinem Erstaunen einen lebenden 90-Grad-Winkel im Schildkrötentempo aus einem ehrfurchtgebietenden Justizgebäude tappen. Aus der Nähe betrachtet handelte es sich dabei um eine steinalte Dame, die an extremer Rückgratverkrümmung zu leiden schien und davon zu einer weitgehend waagrechten Haltung ihres Oberkörpers gezwungen wurde. Mit ihrer altmodischen Kleidung und den beiden Gehstöcken bot sie einen herzergreifend anrührenden Anblick.
Als sich unserer beider Wege dann kreuzten, sah ich zufällig und nur einen Sekundenbruchteil lang, wie die greise Frau ihren Weg durch den Dschungel der Großstadt anpeilt, nämlich mit Hilfe eines ambulant am Brillengestell befestigten, schräggestellten kleinen Spiegels! Im optischen Aufbau einem U‑Boot-Periskop vergleichbar, ermöglicht ein solches Konstrukt den ‑wenn auch spiegelverkehrten- Blick in die Ferne, derweilen die unbewaffneten Augen ansonsten nur den grauen Straßenbelag zu sehen bekämen.
Den reflexhaften Griff zur Kamera habe ich mir verkniffen, weil ich das Ablichten des armen Menschenwesens kuriositätenhalber als entwürdigend empfunden hätte. Doch unabhängig von der Person frage ich mich, wie lange man wohl braucht, bis man sich an den seitenverkehrten Blick gewöhnt und seine Muskelreflexe daraufhin »umprogrammiert« hat. Und kann man dann so ohne weiteres mental wieder »umschalten«, z.B. wenn man daheim im Bett liegt bzw. sitzt und dann ohne Hilfsmittel in die Welt (oder die Glotze) gucken könnte? Vielleicht sollte ich mal einen Selbstversuch starten...
Wenn ich mich recht erinnere...
...dann habe ich zu genau dieser Fragestellung mal eine Untersuchung in irgendeiner populärwissenschaftlichen Fernsehsendung gesehen. Da hat die Umgewöhnung irgendwas im Bereich von 24h gedauert. Das wäre dann nicht besonders geeignet für einen ständigen Wechsel...
#1